Kaum ein Laie nimmt Kalk als wichtigen Rohstoff wahr. Dabei ist ein Leben, wie wir es kennen, seit Jahrhunderten ohne Kalk nicht möglich. In der Regel wird nur an die Bauindustrie gedacht. Doch die ist ein relativ kleiner Verbraucher. Mit Abstand der grösste Kalk Verbraucher ist die Eisen- und Stahlindustrie. Aber auch andere Industrieproduktionen kommen ohne Kalk nicht aus. Die Glasindustrie benötigt Kalk, die Papierindustrie, die Zuckerindustrie kommt ohne Kalk nicht aus, auch die Kunstoff- und Gummiindustrie, Farben-, Lacke-, Klebstoff-Industrie steht ohne Kalk. Waschmittel, Kosmetika, Pharmazeutika selbst einige Lebensmittel sind ohne Kalk nicht denkbar und auch die Landwirtschaft würde ohne Kalk brach liegen, denn im Schnitt werden 400 Kg Kalk pro Hektar Anbaufläche benötigt. Dazu kommt, dass Kalk eines der besten Fungizide überhaupt ist und ein gekalkter Boden garantiert von Pilzen befreit ist. Und auch zum Abdecken ist Branntkalk die erste Wahl. Die schöne alte Schultafel wird natürlich auch mit Kalk beschrieben. Aber das alles ist nur ein Auszug und zeigt die Bedeutung von Kalk. Kalk hat zwar keinen hohen Kilopreis, aber die unglaubliche Masse an Branntkalk die täglich weltweit benötigt wird, macht die Kalkproduktion so richtig interessant.
Erst als mit der industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 18. Jhd. die Welt ausgehend von Grossbritannien auf den Kopf gestellt wurde, Länder sich von Agrarstaaten zu Industriestaaten transformierten, begann der richtig Run auf Kalk. Vor allem war es Grossbritannien, das mit dem Manchester Liberalismus das neue Zeitalter einläutete. Das britische Empire, das eine Kolonie nach der andern verlor, setze durch die Industrialisierung zum neuen Höhenflug an und wurde im Laufe des 19. Jhd. zum grössten Kreditgeber der Welt. So erfolgreich war es.
Britische Händler, erst nur vom wertvollen Farbstoff Karmin durch Fuerteventura angezogen, entdeckten es als fantastische Rohstoffe Quelle für jene Produkte, welche die britische Industrie händeringend benötigte. Soda, Potasche, Kali und eben auch in jeder Menge Kalk. Wer auf der Insel Kalk brannte hatte kein Absatz Problem, es wurde ihm aus der Hand gerissen. Jedes Kilo Kalk, das gebrannt wurde, konnte sofort verkauft werden. Zwar wurde schon im 16. Jhd. Kalk auf Fuerteventura gebrannt, aber im 18. Jhd. explodierte die Produktion. Die Branntkalk Erzeugung ist, wenn es nicht feinster Kalk werden muss, idiotensicher. Kalkstein, Kalksedimente oder ähnliches werden in Lagen gestapelt, immer eine Schicht Rohmaterial und eine Schicht brennbares wie Holz oder optimal Steinkohle. Einfach in einem aus Natursteinen gemauerten Zylinder, damit die Hitze gehalten wird und der Stapel nicht auseinander fällt, anzünden, am Fuss des Stapels rieselt nach und nach Branntkalk heraus. Fertig, verladen und kassieren. Der Kalkbrannt technologisch idiotensicher, hatte Fuerteventura noch einen riesigen Vorteil in Bezug auf das Ausgangsmaterial: Fuerteventura ist keine Vulkaninsel, wie manch einer denkt, sonder hauptsächlich das Produkt einer tektonisch Hebung der Atlantischen Platte. Wo also keine Lava ist, dort liegt Meeresboden, Sedimente, Muschelkalk. Muschelkalk erstklassig, um daraus mit primitiven Mittel hochwertigen Kalk zu brennen. Und so baute sich jeder der konnte, ein Stück Land besass, einen Kalkofen und brannte Kalk. Der Rohstoff gratis, einfach reinschaufeln, befeuern mit allem Brennbaren, das zu finden ist. So fielen die wenigen Kiefern und die besonders gut brennenden wilden Ölbäume dem Kalkbrannt zum Opfer. Nur einige Ölbäume sind noch um Betancuria, wie im Naturpark Parra Medina, zu finden.
Doch dieser "Amateurbrannt" war bald zu wenig und so entstanden grosse Industrieöfen, die im kontinuierlichen Betrieb rund um die Uhr und nie stehend befeuert wurden. Neben den rund 200 erhaltenen Kalköfen, die verteilt über Fuerteventura an annähernd jedem Strand, an dem man anlanden kann, zu finden sind, wurden grosse Industrieöfen gebaut. In El Cotillo, Ajuy die ersten und noch kleinen, dann in Gran Tarajal und zuletzt eine richtige Batterie an mächtigen Öfen in Puerto de Cabras, beginnend im Süden am Playa de los Hornos, am Strand der Öfen, bis hinauf in den Norden, dort wo heute das Inselkraftwerk zu finden ist. Initiatoren waren Briten, die keine Lust hatten von Caleta de Fuste, dem wichtigsten Exporthafen an der Ostküste, zu verschiffen, denn da hob der Lehnsherr von Lanzarote und Fuerteventura satte Exportzölle ein. So entwickelte sich Puerto de Cabras, Puerto del Rosario, auf Initiative der Briten als Konkurrenz zu Caleta de Fuste. Mit britischem Geld finanziert, hatte Caleta de Fuste keine Chance Parole zu bieten und versank gegen die boomende Hauptstadt in Spe in der Bedeutungslosigkeit. Die meisten Häuser des neuen Hafens in Caleta de Fuste wurden von Briten errichtet. Selbst eine britische Botschaft gab es in Caleta de Fuste im 19. Jhd., so wichtig war der Rohstoffexport für das Empire.
Eine industrielle Produktion von Kalk mit kontinuierlich befeuerten Öfen konnte natürlich nicht mehr durch die Befeuerung mit Büschen, Ölbäumen etc. bewerkstelligt werden. So trafen die britischen Lastensegler mit Steinkohle aus dem Empire ein, das für die Befeuerung der Kalköfen genutzt wurde und kehrten nach Grossbritannien beladen mit Kalk, Kali und Soda zurück.
Fantastischer Rohstoff, der kaum gebrannt werden muss.
Ajuy ist der älteste Teil von Fuerteventura, wahrscheinlich des gesamten kanarischen Archipels. An der Bucht des Ortes erhebt sich am nördlichen Ende eine Klippe, deren obere Schicht aus besten Muschelkalk aufgebaut ist. Atlantische Platte, Meeresboden, der als tektonische Hebung an die Wasseroberfläche befördert wurde. Er muss nur in einen Kalkofen geschaufelt werden und kann direkt zu bestem Branntkalk verarbeitet werden.
Sieht man sich ein Luftbild der Klippe von Ajuy an ist schön zu sehen, wie die Klippe abgetragen wurde. Direkt in sie wurden geschickt in den Fels zwei Kalköfen geschlagen. Die Klippe wurde einfach in diese Öfen geschaufelt, immer eine Lage Muschelkalk eine Lage Steinkohle, die von der britischen Schiffen angelandet wurde. Der Branntkalk, der aus dem Ofen rieselte in Säcke verpackt und direkt profitabel nach Grossbritannien verschifft. Produktiver ging es kaum. Die Kasse klingelte.
Wer die Augen auf Fuerteventura aufhält wird feststellen, an jedem Strand, jeder Bucht wo Muschelkalk zu finden ist und die irgendwie mit einem Schiff ansteuerbar ist, wird sich ein Kalkofen finden. An den entlegensten Stränden auf der Halbinsel Jandía, auf der Isla de Lobos, bei El Jablito. Ein mächtiges Exemplar findet sich im Puerto de la Torre am Ende des Barranco de la Torre. Neben Salinas del Carmen und der Saline gelegen, wurde dort Kalk gebrannt und im grossen Stil verschifft. In der schönen Bucht mit Palmenhain kann legal gecamped werden.